Die Russen kommen

Experience
Christian Öfner
Erschienen in
Pleasure 120
Stefan Götschl

Die Russen kommen

St. Moritz im Engadin fühlt sich in seiner Rolle als Ort der Superlative ziemlich wohl. Die Berge sind höher, der Schnee weißer ... und außerdem die Nerzmäntel teurer, der Champagner während des Poloturniers prickelnder und der Luxuslifestyle noch etwas exklusiver. Vor Ort: die Reichsten der Reichen, die Schönsten der Schönen und die Wichtigsten der Wichtigen. Einige davon versuchen sich auch auf dem Snowboard ... Wahre Geschichten aus dem Engadin der oberen Zehntausend.

Wir haben Marco, einen Snowboardlehrer aus St. Moritz, dessen richtiger Name ein anderer ist, der sich in seiner Anonymität aber sehr wohlfühlt, einfach mal erzählen lassen. Über Igor, der in Wirklichkeit natürlich auch ganz anders heißt, aber laut Marco ein lieber Kerl ist. Russischer Immobilienunternehmer, Pharmairgendwas und noch ein wenig mehr. Weiß niemand so ganz genau. Klein, schmal, unscheinbar. Trinkt nicht, raucht nicht. Ist höflich, nett und klug. Ist allerdings auch jemand, der sich vor dem Fernseher in eine russische TV-Moderatorin verliebt, sie deshalb von zwei Ex-KGBlern verfolgen lässt und die beiden Sowjet-Rambos damit beauftragt, die Schönheit zu erschrecken und eine Vergewaltigung vorzutäuschen ... damit Igor aus dem Gebüsch springen kann, um die schöne Holde zu retten. Ein ganz normaler Russe.

Die Geschichte ... Mit 7 von 90 Tagen

90 Tage verbrachte Igor in St. Moritz. Und war für die Zeit sichtlich motiviert, denn ich wurde für die volle Zeit als Snowboardlehrer gebucht. 90 Tage. Zu 400 Franken täglich. Der Winter war grandios. Viel Schnee, unzählige Powder-Sessions. Igor hätte die 90 Tage nicht besser legen können.

Ich war für die Planung der Snowboardausflüge zuständig. Schnell war klar: Igors Motivation mochte etwas geringer sein, als es die 90 gebuchten Tage vermuten ließen. Im Grunde war sie überhaupt nur dann vorhanden, wenn keine einzige Wolke am Himmel zu erahnen war. Die Beurteilung des aktuellen Wetters überließ er mir. Hätte er auch selbst machen können und dafür nur durch das gigantische Panoramafenster seiner noch viel gigantischeren Hotelsuite blicken müssen. Aber hey, wird der Snowboardlehrer für 90 Tage bezahlt, kann der sich auch 90 Tage um den Wetterbericht kümmern. 40 Zentimeter Powder? „Hi Igor, es ist etwas bewölkt, ziemlich kalt und die Sicht nicht optimal. Was meinst?“ – „Ach. Das bringt heute nichts. Ruf mich morgen noch mal an.“ – „Ok. Bis morgen. Vielleicht haben wir dann ja mehr Glück.“ Aufgelegt. Schade ... und den ganzen Tag Tree-Runs genossen.

Sieben Tage habe ich mit Igor auf dem Snowboard verbracht. Und nachdem ich für 90 Tage gebucht war, habe ich auch die vollen 90 Tage bezahlt bekommen. Viel Geld? Natürlich. In Anbetracht der Hotelrechnung von 483.000 Franken aber nicht weiter tragisch ... 

Die Geschichte ... Mit den Frauen

Igor war die Konstante des Winters. Nur die Frauen an seiner Seite wechselten in aufregender Regelmäßigkeit. Sekretärin, Assistentin, Freundin ... deren offiziellen Aufgaben habe ich nie erfahren. Weder habe ich jemals nachgefragt ... noch wollte ich es jemals wissen.

Eines Nachmittags wurde ich von Igor angerufen (das Wetter war wieder mal „zu schlecht“) und wir verabredeten uns zum Essen. Mit dabei eine Schönheit, die ... belassen wir es dabei, dass an seiner Seite vornehmlich Schönheiten anzutreffen waren. Igor hatte sein Telefon im Zimmer vergessen, weshalb wir einen kurzen Abstecher in die Suite einlegen mussten. Auf dem Tisch lag (neben den insgesamt 25 (!) Telefonen, die Igor bei sich trug) die aktuelle Ausgabe des russischen Playboys. Die nackte Frau auf dem Cover hatte sich mir vor zwei Minuten persönlich vorgestellt. Igor hatte sie kurzfristig über das Wochenende einfliegen lassen. First Class. Natürlich.

Doch waren längst nicht alle Begleiterinnen mit so viel Flugglück gesegnet. Noch aus Moskau wurde ich mal damit beauftragt, kurzfristig einen zweiten Snowboardlehrer für seine Begleitung zu organisieren. Kein Problem. Vier Stunden später, Igor war soeben gelandet, „Hi Marco, ich brauch’ doch keinen zweiten Lehrer. Wir haben uns auf dem Flughafen gestritten und sie ging mir auf den Sack. Sie musste zuhause bleiben“.

Was alle Begleiterinnen eint? Der positive Einfluss auf den Schweizer Cashflow. Kaum in St. Moritz angekommen, galt es, die Damen standesgemäß einzukleiden. Board, Jacke, Hose ... unter 5000 bis 6000 Euro hat keine von ihnen den Laden verlassen. Wenige Tage später ging es zurück nach Russland. Schnee hat keiner der Ausrüstungsgegenstände jemals gesehen.

Die Geschichte ... Mit den Objektiv

Die Fotografie ist eine meiner großen Leidenschaften. Ob Naturaufnahmen oder Snowboard-Actionshots, das Engadin hat viel zu bieten. Auch Igor ist nicht ganz unbeteiligt an der Qualität meiner Bilder.

Seit geraumer Zeit hatte ich ein Auge auf das 24-70 Canon-Objektiv geworfen. Ein Prachtstück von einer Linse. Ein objektivgewordenes 5-Sterne-Hotel ... auf 5-Sterne-Preisniveau. Und somit eher in die Kategorie „würde“ als „kann“ ich mir leisten einzuordnen. Glück für Igor, dass er solche Probleme nicht hat. Glück für mich, dass ich Igor habe und wir irgendwann mal zusammen vor einem Kamera-Fachgeschäft in St. Moritz standen. Nennen wir es einen glücklich-geschickt koordinierten Umweg, der uns auf dem Weg ins Hotel an dem Geschäft vorbeigeführt hat. Nennen wir es außerdem ein glücklich-geschickt koordiniertes Gespräch, dass ich Igor – mit trauriger Stimme – von dem Wunschgegenstand berichtet und dabei meine finanziell aussichtslose Situation untermauert habe. Und nennen wir es vor allem eine ganz besonders großzügige Geste, dass ich seitdem noch etwas schärfere Fotos schießen kann. Vor allem im Brennweitenbereich von 24 bis 70 Millimeter.

Die Geschichte ... Mit der sagenhaften Aussicht

Ansehnliche Orte gibt es im Engadin zur Genüge. Einen dieser traumhaft schönen Flecken findet man auf, in, sowie vor der Alpina-Hütte nahe der Bergstation der Corvigliabahn. Kulinarische Annehmlichkeiten der Extraklasse treffen auf Schweizer Alm-Atmosphäre und ein sagenhaftes Panorama. Am besten lässt sich all das natürlich in einem der hart umkämpften Sitzkörbe auf der Terrasse genießen.

Weiß auch Igor. Jener Igor, der ebenfalls weiß, dass man für einen Platz in den Körben entweder sehr früh auf dem Berg sein oder aber sehr viel Zeit, Geduld und Glück mitbringen muss, bis einer der begehrten Platze frei wird. Zu dumm, dass es längst um die Mittagszeit war und weder Zeit, noch Geduld oder Glück zu Igors Stärken zählen. Aber er hatte mich. „Marco, ich will in so einem Korb liegen. Unbedingt. Du kennst doch bestimmt jemanden.“ Kannte ich nicht. Aber mit 300 Euro – nennen wir es – Trinkgeld für jeden der Mitarbeiter war die fehlende persönliche Komponente schnell vergessen. Ich war der Typ mit dem Russen. Der Russe war der Typ mit dem Geld. Und wenig später war er der Typ mit dem Korb. Mit dem besten Korb, versteht sich. Der genau in der Mitte. Reserviert für: Igor. Ab: sofort. Bis: zum Ende des Winters. 

Die Geschichte ... Mit einer Vespa. Und einer zweiten Vespa.

Irgendwann hat sich Igor in den Kopf gesetzt, dass er unbedingt Vespa fahren möchte. Er war wie besessen von der Idee, mit einem dieser italienischen Roller durch die Gassen zu kurven. Problem an der Sache: Igor hat keinen Führerschein für einen Roller. Seine Lösung: Das Problem ignorieren.

Die Entscheidung stand, weshalb ich Igor zum nächsten Piaggio-Händler begleiten musste. Während der Kauf trotz fehlendem Führerschein oder entsprechender Gesetzeslage nicht zur Disposition stand, konnte der Verkäufer Igor immerhin von den Vorzügen eines modernen Automatikgetriebes überzeugen. „Dieses sei einfacher zu bedienen und Igor würde damit im Verkehr nicht negativ auffallen.“ Wenngleich er damit natürlich Recht hatte, sträubte ich mich. „Igor, der perfekte Roller für dich. Auch wenn ich ja – und die wahren Genießer – immer auf ein älteres Modell mit manueller Schaltung setzen würde. Eines, wie es da hinten im Eck steht.“

Als wir den Verkaufsraum wenig später verließen, warteten am Ausgang zwei Vespas. Eine moderne für Igor. Ein alte für mich. Ein Geschenk von Igor. Wie sich herausstellen sollte, handelte es sich dabei um eine der letzten 1000 in Italien produzierten Vespas. Kostenpunkt: in etwa 11.000 Euro.

Zwei Wochen später erhielt ich einen Anruf von Igor. Er „habe seinen Roller jetzt ausprobiert und sei dabei umgefallen. Die Vespa sei wohl ein wenig kaputt. Er wisse es zwar nicht ganz genau, aber ihm sei die Lust eh vergangen. Ich möge sie doch bitte verkaufen.“ Wird gemacht. „Aber deine behältst du, die war ein Geschenk!“ Habe ich natürlich auch gemacht und kurve damit nach wie vor jeden Sommer durch die Gassen.