Positivity Camp: Tough to Reach, Hard to Forget

Experience
Björn Köcher
Val Formazza
Erschienen in
Pleasure 124/125
Stefan Götschl

Positivity Camp: Tough to Reach, Hard to Forget

Ihr braucht nicht länger als vier Stunden, haben sie gesagt. Wir warten mit dem Abendessen auf euch, haben sie gesagt. Nun ja, es hat knackige acht, statt vier Stunden gedauert, bis wir mit unseren Snowboards und Gepäck für fünf Tage auf dem Rücken den Aufstieg vom schweizerischen Nufenenpass auf die knapp 3.000 Metern Höhe gelegene italienische Berghütte Rifugio 3A hinter uns bringen konnten. Und natürlich waren bei unserer Ankunft kurz nach 23 Uhr die meisten Camp-Teilnehmer schon im Bett, die Küche dicht und wir völlig fertig, hungrig und durchgefroren. Aber weder bei uns, noch bei Elias Elhardt, der im Gegensatz zu uns den offiziellen Aufstieg aus dem italienischen Val Formazza gewählt und uns kurz vor der Berghütte eingeholt hatte, war auch nur ein Fünkchen Frustration zu spüren. Wir waren einfach nur glücklich, angekommen zu sein im wahrscheinlich authentischsten und gleichzeitig am schwierigsten zu erreichenden Snowboard-Sommercamp, das passenderweise den Namen „Positivity Camp“ trägt und von sich selbst behauptet: „Tough to reach – hard to forget“.

Doch beginnen wir die Geschichte am Anfang. Im Winter 1993 sorgten die ersten erfolgreichen Turns mit einem Burton Asym Air dafür, dass Snowboarden – und da meine ich explizit das Lebensgefühl und nicht nur den reinen Sport – ein wichtiges Element in meinem weiteren Leben bleiben sollte. Dabei tat sich in den folgenden zwei Jahrzehnten so einiges, was diese innige Verbundenheit immer wieder auf die Probe stellte: Ich wohnte plötzlich in Hamburg, Snowboarden wurde olympisch und Burton ein Konzern. Funparks sprossen aus dem Boden und mit ihnen Kids, die easy fette Rotations in den Schnee stellten oder eine Rail-Line nach der anderen zerstörten, aber nie einen Berg ohne Seilbahnen aus nächster Nähe gesehen hatten. Das Snowboard-Business rutschte nach Jahren des Hypes in eine anhaltende Krise und damit auch das Snowboarden selbst, das sich an die viele Kohle der Unternehmen gewöhnt und dabei – so könnte man vermuten – fast seine Wurzeln vergessen hatte. Bei mir führte das zu einer immer kleineren Flamme Leidenschaft, die in mir fürs Snowboarden loderte – bis ich vor zwei Jahren von einem fast vergessenen Ort erfuhr, der irgendwie dem im Sweetgrass-Streifen beschriebenen Valhalla ähneln sollte. Einem Ort für Idealisten, so fern von jeglicher Zivilisation und dem Irrsinn dieser Welt, dass man sich der Seele unseres Sports erstmals wieder so richtig nah fühlen konnte.

Björn Köcher

Deshalb fuhr ich diesen Sommer erneut die gut 1.000 Kilometer von Hamburg in Richtung Piemont. Dieses Mal begleitete mich Chris „Stu“ Göricke. Wir entschieden uns, die 200 zusätzlichen Autokilometer zu sparen, die nötig gewesen wären, um zum offiziellen Positivity-Camp-Zustieg aus dem Val Formazza zu kommen. Stattdessen wollten wir die wenig begangene Route vom schweizerischen Nufenenpass, der das Wallis mit dem Tessin verbindet, ausprobieren. Diese Aufstiegsvariante vorbei am Griessee, über den Griespass und entlang der etwas lawinengefährdeten Südflanke des Bättelmatthorns ist Mitte Juni normalerweise größtenteils schneefrei. Dann dauert sie auch die erwähnten maximal vier Stunden. Diesen Sommer lag der gesamte Weg jedoch friedlich unter einer geduldigen Schneedecke. Aber während die Anreise zu klassischen Sommer-Camps entweder einfach nur nervt oder ähnlich aufregend ist, wie die Fahrt zu den Großeltern, ist schon der Weg zum Positivity Camp ein Abenteuer. Dass das auch für den Rückweg gelten sollte, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dazu aber später mehr.

Björn Köcher
Björn Köcher
Björn Köcher
Björn Köcher
Björn Köcher
Das Rifugio 3A liegt auf knapp 3.000 Meter und verfügt zwar nicht über WiFi, bietet dafür aber einen grandiosen Blick auf die umliegenden Berge. Geht schlimmer.

Seit 1999 treffen sich Snowboard-Romantiker in dem nahezu unbekannten italienischen Tal mit dem fast vergessenen Schlepplift mitten in den Bergen. Initiator ist weder ein Skigebiet noch ein professioneller Reiseanbieter, sondern zwei sympathische Snowboard-„Hippies“ aus Italien: der Fotograf und Buchautor Andrea Giordan und der mittlerweile im Allgäu lebende Filmemacher Maurino Castellani. Sie wollen einen Gegenpol zum Rummel in den klassischen Gletscher-Skiresorts und den für Normalsterbliche unerschwinglichen Gebieten in der südlichen Hemisphäre schaffen. Dabei geht es ihnen bei dem Non-Profit-Camp um das Wesentliche: eine gute Zeit mit anderen Snowboardern, die alle eines verbindet – eine irgendwann einmal entfachte Leidenschaft fürs Snowboarden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dieser Philosophie folgen jedes Jahr 40-80 Snowboarder, vorwiegend aus Italien und der Schweiz. Manchmal auch aus Österreich. Ganz selten aus Deutschland. Aber auch Pro-Rider wie die schwedische Freestyle-Legende Ingemar Backman oder Style-König Gigi Rüf haben hier in den vergangenen Jahren die entspannte Berghütten-Atmosphäre, das gute italienische Essen und den von Shape-Artist Stefan Plattner gebauten Park genossen. Dieser Park kann natürlich niemals so perfekt sein, wie in einem großen Sommerskigebiet. Aber gerade das fördert die Kreativität der Fahrer. Und wenn jemand eine Idee hat, wird halt einfach was gebaut. Gemeinsam. Für eine unvergessliche Zeit, deren Schönheit im Imperfekten, im Überraschenden und in dem alles verbindenden Element liegt – snowboarden.

Simon Gruber
Andrea Giordan

Die Abreise läuft immer gleich ab: zahlreiche Umarmungen, der Austausch von Kontaktdaten und das sichere „See you next year, Ragazzi“. Dann geht es normalerweise je nach Schneelage im Wechsel mit dem Brett unter den Füßen oder mit dem Brett auf dem Rücken zurück ins Tal zum Auto. Wir mussten jedoch zurück in die Schweiz zum Nufenenpass und die Aufstiegsroute war keine gute Option. Als Alternative empfahl uns ein italienischer Splitboardtourengeher den weiteren Aufstieg von der Berghütte zum Gipfelplateau des Griesgletschers und die Abfahrt zum Griessee – und damit fast bis zu unserem Auto. Der knapp anderthalbstündige Aufstieg in einem extrem windigen und nebeligen Couloir ließ uns fast aufgeben. Angekommen auf dem Grat kam wie auf Knopfdruck die Sonne raus, der Wind flachte ab und vor uns lag das riesige unberührte Schneefeld des Griesgletschers. So endete das Abenteuer Positivity Camp mit einer für Sommerverhältnisse unglaublich genialen Abfahrtsvariante – als würde da jemand sagen: Jungs, das habt ihr euch verdient. Das ist Snowboarden.

Björn Köcher ist Snowboarder, Hamburger, genereller Bergsport-Enthusiast und schreibt unter anderem auf seinem digitalen Kurort st-bergweh.de. Folgen sollte man ihm auf Instagram, Facebook und Twitter. Lohnt sich.